5775 Schawuot

Schawuot 5775

Zur Schawuotfeier 5575 und damit zur Lernnacht, „tikkun olam“, trifft sich ein Minjan unserer Gemeinde in der Remise in Gatow. Rita heizt sogar den großen Ofen für uns an, denn es ist frisch hier drinnen.  Unsere Kantorin, Jalda, beginnt zu singen und uns wird sofort warm. Wir singen dann alle zusammen den Psalm 122 nach einer Melodie von Shlomo Carlebach. 
Jalda liest die ersten zwei Verse des Psalms vor und wir diskutieren darüber, was uns die besagen. Es heißt:  Es sei zu wünschen, dass Menschen einander im Frieden und im Guten begegnen. Daran knüpft der Wunsch an, dass sie ihre Wirklichkeit heiligen und ein Haus des Einen bauen mögen. Jalda spricht von der Gesetzgebung am Sinai und zitiert aus der Tora. Den Israeliten wurde übermittelt, zu tun und zu hören. Erst tun, bevor sie hörten? Sie schwören, den Mitzwot Folge zu leisten, noch ehe sie sie das erste Mal vernommen hatten. Sie waren immer da und wurden für immer gültig gegeben.
Was könnte diese Reihenfolge: Erst das Tun, dann das Hören bedeuten? Bedeutet das, dass die Tora gegeben wurde und dann alle darum wissen können, was zu tun ist? Nur im guten Handeln  gehorchen sie den Worten. Wir sprechen darüber, dass es bis heute keinen Frieden gibt in der Welt. Schon wie bei den ersten Brüdern Kain und Abel führen Konkurrenzdenken und Neid immer noch zum Brudermord. 
Nachdem uns die Tora am Sinai gegeben wurden, werden von da an Pflanzenopfer und Tieropfer gemeinsam dargebracht. Mit der Tora gibt keinen Grund mehr für Habgier und Gewalt. Wir sind nach der Flucht aus der Enge „Mi zar, und im Plural „Aus den Engen“, „Mizarim“, das ist Ägypten zusammen am Berg Sinai. Jeder für sich und alle zusammen erhalten die Tora. In Freiheit nehmen wir die Tora entgegen.
An dieser Stelle machen wir eine erste Lernpause. Wie gehen nach draußen, atmen die frische Abendluft, sehen Mondsichel und den Planet Venus, im scheinbaren tete a tete am dunklen Firmament schillern und gehen eine geruhsame Runde durch den kleinen Garten der Weltreligionen, durch Ritas Botanicum.  Einige blieben lieber in der Remise und haben liebenswürdigerweise in der Zwischenzeit für alle den Tisch festlich gedeckt. Jede hatte etwas Milchiges für das gemeinsame Essen beigesteuert. Doch nach dem Kiddusch  nehmen  zuerst alle von der Gerstengraupensuppe, die von Etha gestiftet und von Rita für uns angerichtet wurde. Diese Köstlichkeit, mmhh lecker, muss, da bin ich mir sicher, nach der uralten geheimen „Schit-Methode“  entstanden sein, die ging so: „Mer schit in einen Topf a bissl Dies und mer schit a bissl Das und dann mer schit …! 
Schawuot ist nach Pessach das zweite Erntefest im Vegetationsverlauf. Es gibt zu Schawuot richtig viel zu tun auf den Feldern und beim Vieh, das in dieser Zeit seine Jungen geworfen hat. Dann gibt es so viel Milch , die reicht für die Ernährung der Menschen, sodass Jungtiere nicht geschächtet werden müssen und aufgezogen werden können. Es bleibt diesmal keine Zeit, um noch einmal acht Tage lang zu feiern. Mit Schawuot endet das Omerzählen. Es nahm zu Pessach seinen Anfang  und findet nach 49 Tagen, mit der Gesetzgebung am Sinai am fünfzigsten Tag, seinen Abschluss. Die Gesetzesworte sagen uns, wie wir in Freiheit nun in Frieden miteinander leben können. 
Jalda liest weiter: Die Israeliten sahen den Donner vom Berg… So heißt es in der Tora. Es heißt nicht etwa: Sie hörten den Donner? Wir diskutieren diesen Vers und einigen uns in unserem Verständnis darauf, dass es heißen könnte: Die Israeliten sahen, d.h. sie hatten ein Einsehen, eine Einsicht, in die Botschaft, die vom Berg zu ihnen kam. Diese Einsicht in das Wesen der Botschaft geht ohne die akustische Wahrnehmung. Es ist ein inneres Hören. Sie (ge-)horchen. Einsichtige verstehen diese „Sprache“. Schma Israel!      
Wir hören vom Buch Ruth,  von ihrer Nachlese des abgeernteten Feldes für eine Mahlzeit. Wir diskutieren darüber, was den Weg Ruths ausmachte. Sie vertraut auf den Einen und handelt entsprechend. Sie lässt alles zurück, was sie kannte. Im Vertrauen und in Loyalität zu ihrem nächsten Menschen, Naomi, verlässt sie alles Alte und ist bereit, Neuem zu begegnen. 
Wir wissen, dass milchige Speisen zur Schawuottradition gehören und können nun nicht länger den mittlerweile aufgetischten, von Gabi und Rita bereiteten Verführungen, in Form von Windbeuteln und Käsekuchen, widerstehen. 

  
  
                              
Als Gast der Gemeinde ist heute Abend Dr. Ulrike Offenberg, Rabbinatsstudentin, kurz vor dem Abschluss, zu uns gekommen. Sie hat einen Schiur vorbereitet. Darin geht es darum, was in Konfliktsituationen geschehen kann. Sie stellt uns das Thema am Beispiel der beiden in ihren Meinungen differierenden Lehrhäuser Schmaii und Hillel vor, die ca. eine Generation vor der Zerstörung des 2. Tempels bestanden. Anhand verschiedener Textbeispiele aus den Talmudim, aus Tosefta und Mischna und weiteren, können wir verfolgen, was geschieht, wenn mehrere Meinungen herrschen und daraus Zwist entsteht. Wer hat nun Recht? Beide? Oder nur einer? Die Schule Hillels? Warum sie? Weil sie freundlicher und milder urteilte? Oder weil Redaktoren sie absichtlich bevorzugt darstellten? Wenn sich Einigungen scheinbar  doch jedspielend erzielen lassen, ist das nun eine idealisierte Darstellung? Tatsächlich wollteer nur seinen Willen durchsetzen?  Auch, wenn das eine kriegerische Auseinandersetzung zur Folge haben könnte? 
Wir, an diesem Abend, haben die Hoffnung, dass alles sich im Konfliktfall doch noch zum Guten wendet. Beide Meinungen der Lehrhäuser und noch weitere Meinungen wurden uns überliefert. Es gibt nicht nur eine wahre Meinung. Damit schließt sich der gedankliche Kreis bis hin zu den Psalmversen am Anfang des Abends. Die Menschen sind nun selber für den Frieden verantwortlich, denn am Sinai wurden uns die Gebote gegeben, im Guten zu handeln. Sie sind nicht mehr im Himmel,  so wie der Midrasch, den Ulrike uns zum Abschluss erzählt, veranschaulicht. Wir singen dann nochmals am Ende der Lernnacht gemeinsam den Psalm 122 und gehen zwar müde, doch an Leib und Seele reich genährt, dem Sonnenaufgang und dem Gottesdienst entgegen.

                    

                   Text: Deborah Williger            Fotos: Anna Adam