2012 Schiur mit Rivka Jaussi: "Mahlzeit - b-Te´avon"

Schiur mit Rivka Jaussi: "Mahlzeit - b-Te´avon". Von der jüdischen Tradition des Segnens und den Traditionen des Brotsegnens

An Schabbat Wajikra/Rosch Chodesch Nissan hatten wir bei Ohel Hachidusch das Vergnügen, von Rivka Jaussi - Autorin eines Siddurs in geschlechtergerechter Sprache - eine Menge Interessantes über die Tradition jüdischer Segenssprüche zu erfahren. Ausgangspunkt ihres Vortrags war die Frage, ob es überhaupt gestattet ist, Segenssprüche zu verwenden, die von den üblichen Formulierungen abweichen.

Rivka erklärt uns, dass die Wurzeln der Segensformeln, wie wir sie heute kennen, zwar im Tanach liegen (1. Chronik 29:10), dass jedoch bereits in rabbinischer Zeit kreative Prozesse stattgefunden haben, die Kürzungen und Umschreibungen mit sich brachten. Eine ganz grundlegende Ergänzung war beispielsweise die unmittelbare Ansprache des Göttlichen mit "atah" (du), worin sich übrigens ein wichtiges Detail verbirgt, von dem gleich noch die Rede sein wird. 

Nachdem also offensichtlich ist, dass ein formender Umgang mit Bestehendem nicht nur zulässig, sondern sogar beste Tradition ist, stellt uns Rivka im nächsten Schritt verschiedene Variationen des Brotsegens vor. Dabei geht sie vor allem auf das Anliegen feministischer Gruppierungen ein, durch die Wortwahl weibliche Aspekte des Göttlichen sichtbar zu machen. 
An dieser Stelle tritt nun die spannende Erkenntnis zu Tage, die das "atah" betrifft. Die Mystiker des Mittelalters nämlich meinten, in diesem kleinen Wörtchen einen überraschenden Hinweis zu entdecken: Der Buchstabe ה am Ende eines Wortes im Hebräischen, dem der Laut "a" vorangeht, kennzeichnet in der Regel ein grammatikalisch weibliches Wort. Was könnte das bedeuten? Die Mystiker verstanden es als Hinweis auf die Schechina, die traditionell als weiblich verstandene Gegenwart des Göttlichen in der Welt, die auch mit der zehnten Sefira Malchut assoziiert wird. Was läge also näher, dachten sich vor allem Frauen, als das "du" in der weiblichen Form zu verwenden und die Schechina auch zu benennen? So entstand: "Brucha at Sch'china..."   
Die Beobachtung, dass der Wortstamm von "Baruch" identisch ist mit dem von "Brecha", was Schwimmbecken, Bassin oder Wasserquelle bedeuten kann, ermöglicht eine Lesart von 
 ברוך אתה nicht als "gesegnet/gelobt seist du", sondern als "Wasserquelle du". Daraus wiederum kann die Formulierung "Brucha at Ein ha-Chajim" ("Quelle des Lebens") abgeleitet werden - im Hebräischen wie im Deutschen auch grammatikalisch weiblich. 
Da das Göttliche letztlich jenseits der Kategorien "männlich" oder "weiblich" gedacht werden muss, finden viele von uns spontan Zugang zu der geschlechtsneutralen Einleitung "Nevarech et..", "Segnen wir/Wir wollen segnen". Diese betont gleichzeitig die aktive Rolle der Segnenden sowie durch die Verwendung des "wir" die Gemeinschaft. 
Im Segensspruch des humanistischen Judentums ist das Göttliche ganz in den Hintergrund getreten; stattdessen richtet sich der Blick auf die Arbeit der Menschen, die ihren Beitrag dazu geleistet haben, dass das Brot auf unseren Teller gelangt ist ("die Brot aus der Erde hervorbringen", "unserer Hände Mühe"). Vielleicht ein guter Anlass darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen unser Essen entsteht? Außerdem bietet diese Variante natürlich die Möglichkeit, die Tradition des achtsamen Innehaltens vor dem Essen auch unabhängig von religiösen Vorstellungen beizubehalten. Die Unterzeichnende mag sich mit dieser anthropozentrischen Formel jedoch nicht so recht anfreunden. 
Mithilfe eines kleinen "Baukastens" können wir zum Schluss individuelle Segensformeln selbst zusammenstellen. Besonders gefällt mir persönlich der Baustein "Ruach ha-Olam" anstelle des geläufigen "Melech ha-Olam". Denn manchmal im Alltag muss ich an ha-ruach denken, nämlich immer dann, wenn ich aus der U-Bahn die Treppen hinaufsteige und mir plötzlich, scheinbar aus dem Nichts, viele Sekunden lang ein richtig heftiger Wind um die Ohren fegt... Außerdem mag ich Rivkas Übersetzung von ruach als "das uns immer Begleitende". 

Inzwischen aber ist es Zeit, zum praktischen Teil des Nachmittags überzugehen, denn beim Zuhören haben wir Hunger bekommen. Rivka bringt uns die passende Melodie für den "Nevarech"-Segen bei, und dann gibt es, wie immer bei unseren Veranstaltungen, etwas Leckeres zu essen. Be-Te'avon! 
Text: Isabelle Wagner